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1878 – 1928.

Der Alten Tat – der jungen Erbe.“, eine Beilage des Volksblatts vom 21. Oktober 1928.

Das sozialdemokratische Volkblatt, das seit 1919 in Göttingen erscheint, würdigte 1928 das vor 38 Jahren beendete Gesetz gegen die gemeingefährlichen Umstriebe der Sozialdemokraten, das sog. „Sozialistengesetz“. Der Mitgründer der SPD in Bovenden, Wilhelm Lechte, der seit 1891 in Weende lebt, erinnert sich in einem lebendig geschriebenen Text an die erlebte Kinderarbeit. Armut, seine Wanderschaft nach der Lehre, polizeiliche Schikanen und die Gründung des sozialdemokratischen Arbeitergesangvereins „Troubador“, , den Wahlverein (später Ortsverein) und die gewerkschaftliche Bewegung der Tabakarbeiter in Bovenden. Besser als aus der Hand eines Genossen, der diese Zeit mitgestaltet hat, kann man die Anfänge der Partei in Bovenden nicht wiedergeben.

„Wilhelm Lechte in Weende:

Erinnerungen aus der Zeit des Sozialistengesetzes.

Kurze Lebenserinnerungen möchte ich heute erzählen und darüber plaudern, wie ich Sozialdemokrat wurde. Ich wurde als Sohn eines kleinen Gewerbetreibenden in Bovenden geboren. In meinem sechsten Lebensjahr verstarb der Vater und so wurde ich gezwungen, von meinem zehnten Lebensjahre in der Zigarrenfabrik [1] mitzuverdienen. Anfänglich verdiente ich wöchentlich 30 Pfennig, um dann nach einigen Jahren auf wöchentlich 1,20 Mark zu kommen. De Arbeitszeit lief von morgens 6 bis 7.45, mittags von 11.15 bis 12 Uhr und nachmittags von 4.15 bis 7 Uhr, im Sommer und im Winter bis 8 Uhr abends. Während der Schulferien wurden wir den ganzen Tag in der Fabrik beschäftigt. In dieser Zeit verdienten wir dann bis 1,50 Mark die Woche. In keinem Betriebe ist wohl die Ausbeutung des Arbeiters durch den Arbeitgeber so groß, wie es damals in der Tabakindustrie war. Ich lernte also schon früh den Segen unserer heutigen Wirtschaftsordnung kennen, und darum ist es auch

Ganz verständlich, daß ich früh Sozialdemokrat wurde.

Im Jahre 1875 wurde ich aus der Schule entlassen und 1879 hatte ich meine Lehrzeit als Zigarrenmacher beendet. Ich versuchte nun mein Glück in der Fremde, und erhielt zuerst Arbeit in Braunschweig. Hier lernte ich schon ernste, überzeugte Sozialdemokraten kennen. Jedoch waren die Genossen unter dem Druck des 1878 erlassenen Schandgesetzes [2] sehr vorsichtig und zurückhaltend gegen junge Kollegen. Es hielt mich auch nicht lange in Braunschweig, schon nach wenigen Wochen griff ich wieder zum Wanderstab, um dann nach elfwöchiger Tippeltour in Krempe in Holstein Arbeit zu finden. Bevor ich die Arbeit antreten konnte, bekam ich erst vier Tage Staatspension wegen Fechten und hatte somit etwas Muße über die herrliche Weltordnung nachzudenken. [3] In meiner neuen Stelle in Krempe verdiente ich nun den fürstlichen Lohn von wöchentlich 3 Mark bei freier Station. Die Arbeitszeit war dafür von morgens 7 Uhr bis abends 10 Uhr. Ich arbeitete bei einem sogenannten Hausarbeiter, der von den Fabrikanten nach Strich und Faden ausgebeutet wurde und sich dafür wieder an mich [4] schadlos zu halten suchte. Mein nächster Arbeitsplatz war Friedrichstadt in Schleswig und dann Neumünster in Holstein. Hier hatte schon in jenen Jahren die Industrie festen Fuß gefaßt. Meinen Arbeitgeber nannten meine dortigen Kollegen den verrückten Amerikaner. Ein Unikum war dieser Mann aber auch. Er versuchte immer seine Arbeiter durch unrichtiges Zählen um die paar sauer verdienten Groschen zu bemogeln. Nach Aufgabe dieser Arbeitsstätte kam eine 22-wöchige Wanderschaft, bei der ich nur an Klinkenputzen [5] angewiesen war, denn

Mit dem Sozialistengesetz waren auch die Fachverbände zerschlagen.

Mein nächster Arbeitsplatz war Lothen [6] in der Nähe des früheren Kruppschen Kanonenschießplatzes. Mein letzter Arbeitsplatz in der Fremde war Coswig in Anhalt. Von hier kehrte ich auf Bitten meiner alten Mutter wieder nach Bovenden zurück; ich sollte ihr in ihren alten Tagen eine Stütze sein. Auch ein guter Freund schrieb mir, er glaubte, ein Stein, der immer rollte, wie ich, könnte nie Moos ansetzen. Da hatte er ganz recht, denn mit dem Moos war es bei mir immer schlecht bestellt.

Aber was ich mit nach Hause brachte, war die Erkenntnis, daß vieles besser sein könnte, wenn sich die Arbeiter von den Fabrikanten nicht allzusehr am Gängelband führen ließen und sich mehr auf eigene Füße stellten. Die Genossen Carl Seits, H. Schlemm, G. Freiberg, Wilh. Freiberg, Carl Reppe, Adolf Grete, Just Mackenrot, C. Hettenhausen und ich suchten unter den jungen Leuten in Bovenden, zum großen Teil landwirtschaftliche Arbeiter, soviel zusammen zufinden,

um einen Gesangverein, den jetzt noch exístierenden Verein ‚Troubadour‘ zu gründen. [7]

Denn der bereits schon lange bestehende Arbeitergesangverein stand unter dem Einfluß des Fabrikanten Löwenthal. Wir wollen frei sein und wollten unsere Freunde für die Parteibewegung interessieren, was uns auch vollkommen gelungen ist. Bei jeder Parteiarbeit standen die Mitglieder des Vereins zur Verfügung. Leider ist der Verein ‚Troubadour‘ durch die Machenschaften einiger Personen in den letzten Jahren das nicht geblieben, wozu wir denselben ins Leben gerufen hatten. Der Verein hatte von Anfang an viel unter den Anfeindungen unserer Gegner zu leiden. Der Präses des andern Arbeitervereins hatte unserem Verein den Spottnamen Vizebohnen-Verein gegeben und zwar aus dem Grunde, weil eine Arbeiterin eine Metze [8] weiße Bohnen verkauft hatte, um die Mittel zur Anschaffung einer neuen weißen Bluse zu einem Stiftungsball aufbringen zu können. Aber alle Schikanen haben nichts genutzt; die Mitgliederzahl wuchs und jedermann blieb nach wie vor zur Parteiarbeit bereit. Es war nun unsere Aufgabe, bei der Arbeit viel über Politik und Wirtschaftsfragen zu sprechen und zu diesem Zweck hatten wir in dem Arbeitssaal, in dem wir ich arbeitete, einen Vorleser gewählt. Derselbe mußte uns morgens die neusten politischen und wirtschaftlichen Tagesereignisse vorlesen. Als Entgelt bekam er von jedem Kollegen, einige Zigarren gemacht, so daß demselben kein Zeitverlust entstand. Der Fabrikant nannte unseren Arbeitssaal den roten Saal. So wurden wir auch einem neueingestellten Meister vorgestellt. Der aber meinte ganz trocken

Ich bin mit den Schwarzen in Amerika fertig geworden, also werde ich auch mit den Roten in Bovenden fertig.

Aber es kam anders, nicht er wurde mit uns fertig, sondern wir wurden mit ihm sehr gut fertig. Leider mußte der Mann zu früh an der Proletarierkrankheit [9] sterben, die viel zu viel Tabakarbeiter dahinraffte.

Die erste Arbeiterzeitung, die bei uns Abonnenten fand, war die ‚Nürnberger-Arbeiter-Chronik‘. [10] Später erschien die ‚Nordwacht‘ aus Bant bei Wilhelmshaven [11]. Sie wurde schon in 40 Exemplare in Bovenden gehalten. Durch die Sozialversicherungsgesetzgebung [12] kam lebhafte Bewegung in die Bude. Wir gründeten eine Zahlstelle der Zentral-Krankenkasse. Der Fabrikant gründete als Gegendruck eine Fabrik-Krankenkasse, um sein Getreuen vor dem Verkehr mit den roten Kollegen aus Hamburg zu schützen. Aber der Stein war ins Rollen gekommen und so gründeten wir nun auch eine Zahlstelle der Reisekasse der Tabakarbeiter Deutschlands. Diese Kasse konnte Unterstützung auf Reisen und im Todesfalle eine solche der Ehefrau gewähren. Wenn auch die Leistungen der Kasse in Folge der niedrigen Beiträge gering waren, so war doch der Zusammenhalt da. In diese Zeit fiel auch

Unsere erste Lohnbewegung. [13]

Dieselbe hatte den Erfolg, daß wir für 1000 Zigarren 50 Pfg. Lohn mehr bekamen. Lohnbewegungen waren in jener Zeit schwer durchzuführen. Das Sozialistengesetz war dazu da, die Arbeiter nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich zu knechten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch auf die Mißstände aus jener Zeit erinnern, die heute wohl nicht mehr möglich sind Die erste Maßnahmen zum Arbeiterschutz waren die, Kinder unter 12 Jahren nicht mehr in der Fabrik zu beschäftigen. [14] Von Zeit zu Zeit fand deshalb eine Revision durch den Gendarmen statt. Diese ‚Revision‘ ging folgendermaßen vor sich: Der Beamte ging ins Kontor und meldete gehorsamst, daß er revidieren müsse. Es lief dann ein Schreiber sofort durch die Arbeitssäle mit dem Flüsterton: Der Gendarm kommt.

Alle nicht 12 Jahre alten Kinder huschten dann jedes für sich in eine bereitstehende Tonne.

Darauf wurde dann eine mit Tabak gefüllter Karton gestellt und die Revision fand statt. Der Gendarm fand alles in bester Ordnung und diesen Unfug mußten die Arbeiter unterstützen, um ja die kleinen Kinder ausbeuten zu können, damit die Arbeiter das nackte Leben fristen konnten. Unserer Bewegung gehörten nur junge Genossen an, und ist es auch dadurch zu verstehen, daß wir trotz aller Arbeit

1884 bei der Reichstagswahl erst 7 Stimmen in Bovenden

aufbrachten. 1887 waren es schon 48, von da an ist die Stimmenzahl immer gewachsen, bis zum 20, Mai 1928, wo leider ein kleiner Rückgang zu verzeichnen ist . Um mit Genossen Radbruch zu sprechen, ist es nicht Flugsand gewesen, war wir dort ansammelten. [15] An Drangsalierungen ließen es die Behörden während des Sozialistengesetzes nicht fehlen.

Die erste Anklage,

die uns der Staatsanwalt zustellte, war wegen sozialistischer Umtriebe. Die zweite wegen verbotener Tellersammlung in einer Breyveranstaltung [16] und die dritte wegen Herausgabe eines Flugblattes für den 12. Hannoverschen Wahlkreis. [17] Der inkriminierte Satz, der es dem Staatsanwalt angetan hatte, lautete:

‚O Michel, reiß deine Schlafmütze runter und klatsche solchen deinen Wohltätern um die Ohren, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.

Hierin erblickte der Staatsanwalt Aufreizung zum Klassenhaß und Gewalttätigkeiten. Geschrieben hatte das Flugblatt unser Genossen W. Pfannkuch in Kassel. [18] Ich hatte nur als sogenannter Sitzredakteur gezeichnet. Nur so konnten wir unsere alten bewährten Führer schützen, da sie allein die vielen Gefängnistrafen nicht absitzen konnten. Jeder Anklage ging ein groß angelegte Haussuchung voraus, es erschienen zu diesem Zweck zwei Gendarmen, ein Amtsrichter, ein Protokollführer, der Bürgermeister und ein Beigeordneter. Dann wurden alle Räume vom Boden bis zum Keller, Betten, Schränke, Kommoden und Tische durchsucht: nicht das Kind in der Wiege wurde verschont. Dreimal hat man mich mit solchem Besuch beehrt: gefunden haben die Herrschaften natürlich nichts. Nur einmal hat mir meine schon lange verstorbene Frau bei einer Haussuchung

Meine ganze Büchersammlung unterm Siedeofen verbrannt.

Durch diese Haussuchungen wurde man aber auch unbeliebt beim Hauswirt. Es machte stets Aufsehen im Dorfe; sollte ja auch abschreckend wirken und für unsere Gegend eine Genugtuung sein. Aber trotz alledem fiel die Saat auf guten Boden.. Die Arbeiter fühlten sich geschlossen doch stärker, es kam öfter zu Zusammenstößen mit unserem Arbeitgeber. Seit Bestehe des Betriebes mußten

die Arbeiter Sonntagsvormittags unentgeltlich arbeiten.

Sämtliche Lagerarbeiten, und diese gab es sehr viel, mußte ohne Entlohnung verrichtet werden, diesem Uebel wollten wir nun ein Ende machen. In diesem Kampfe bin ich persönlich unterlegen; ich wurde abgeschoben. In einem anderen Betriebe fand ich in Bovenden auch keine Arbeit. Aber es war der Wunsch meiner Genossen, daß ich im Orte blieb, und deshalb machte ich mich selbständig, was für unserer jungen Bewegung auch wohl zum Vorteil gewesen ist. Trotz allen geschäftlichen Schwierigkeiten, womit ich die ersten Jahre zu kämpfen hatte, gab es nicht eine Stunde, wo ich mich mit meinen Genossen nicht unzertrennlich verbunden fühlte. Wenn man heute so oft von Genossen hört, es ist nichts erreicht, so weiß man genau, daß es keiner von den Alten ist, der so etwas sagt. Denn wenn man 40 bis 50 Jahre zurückdenkt, wie es da um die Arbeiter bestellt war, und man zieht einen Vergleich mit heute, dann weiß man, was unsere Bewegung uns alles gebracht hat. Wenn wir Arbeiter, die in der Arbeiterbewegung standen, ein kleines Vergnügen hatten, so waren von Anfang bis Ende zwei bis drei Gendarmen da. Wir haben Feste gefeiert, wo wir von sechs Gendarmen bewacht wurden. Zu ihnen gehörte auch immer der jetzt in Göttingen lebende Gendarm in Ruh, Heise. [19] Ich habe stets die Ueberzeugung gehabt, als wenn ihm sein Judasdienst zum Ekel war. Ein besonderer Sozialistenfresser war der Kreissekretär Heinemann. [20] Mit diesem Manne hatte ich oft wegen Versammlungen zu tun [21]. Gift und Galle war der Mensch; aber ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen. Zur Sorte der Kommißstiefel gehörte auch der in Bovenden stationierte Gendarm Bosse, der mich auf alle Arten zu schädigen suchte. Aber alle Niedertracht hat nicht vermocht, die Arbeiter vom rechten Wege abzubringen. Man hatte auch schon unter der Preußenfuchtel Beamte, die menschlich dachten, und zu diesen gehörte der Polizeikommissär Seitlitz [22]. Mit diesem Manne wurde man in Versammlungen stets gut fertig. Nur einmal bin ich mit seinen Beamten in Konflikt geraten. Es war eine gegnerische Versammlung in Göttingen, im Saale der späteren Kaiserhalle [23]. Ich habe dort konvertierte Flugblätter [24] über die Versammelten verteilt. Dabei wurde ich von dem Schutzmann Gerlech sistiert und aus der Versammlung nach der Wache gebracht. Mit solchen Schikanen glaubte man die Bewegung hemmen zu können.

Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes

gründeten wir Genossen einen Wahlverein für den 12. Hannoverschen Wahlkreis. Der Kreis der Mitglieder war noch klein, denn das Vereins- und Versammlungsgesetz verlangte, daß jedes einzelne Mitglied einer politischen Vereinigung polizeilich angemeldet sein müßte. Frauen durften politischen Vereinen nicht angehören. [25] Die Polizei war somit immer auf dem laufenden, wer sich öffentlich als Sozialdemokrat bekannte. Der erste Parteitag, der nach Aufhebung des Sozialistengesetzes auf deutschen Boden wieder stattfand, war der Parteitag in Halle [26], ich war von unseren Genossen als Delegierter gewählt und hatte somit die Ehre, mit all unseren alten Kämpfern zusammen zu kommen. Ich hatte mit manchen der vielen alten schriftlich in Verbindung gestanden; nun war es mir vergönnt, sie persönlich kennen zu lernen, und manche gute Anregung mit nach Hause zu nehmen, in der Zeit des Sozialistengesetzes hatte ich unserem alten Genossen W. Liebknecht per Karte zum Geburtstag gratuliert. Trotz der vielen Gratulationen, die der alte Genosse stets erhielt, war ihm meine Karte aus dem kleinen Ort Bovenden doch aufgefallen und Wilhelm Liebknecht schrieb mir seinen besonderen Dank zurück. –

Ich möchte noch den

Osteröder Geheimbundprozeß

erwähnen. Es waren neun Tabakarbeiter wegen Geheimbündelei angeklagt, zu ihrem Verteidiger hatten sie den Rechtsanwalt Eckels in Göttingen. [27] Die Verhandlung fand vor dem Landgericht in Göttingen statt. Das Urteil fiel so aus, daß sämtliche Genossen zu Gefängnis verurteilt wurden. Die Strafe wurde dann unter der Regierung Friedrichs III. im Gnadenwege erlassen. Mit den Genossen in Northeim, Einbeck, Osterode und Münden hielten wir regen Verkehr. In Northeim waren es die aus Hamburg ausgewiesenen Genossen Bornemann und Schiele, aus Einbeck Genosse A. Müller, aus Osterode der später nach Amerika ausgewanderte Genosse Schuhlenberg und in Münden der ebenfalls nach Amerika ausgewanderte Genosse Adolf und dann Jean Kaldauke, dem Vater der jetzt dort sehr rührigen Brüder Kaldauke. Von den nächst gelegenen Orten war es Angerstein und Parensen. Im letzten Orte war es unser alte Genosse W. Fraatz, in Angerstein waren es C. Linnemann und H. Reppe, die regen Verkehr mit uns hielten. In der Reichstagswahl 1887 hatte ich durch Pfarrkinder in einem versiegelten Briefe Stimmzettel an Linnemann geschickt. [28] Dies sollte nun ein Staatsverbrechen sein und wurde dieserhalb eine Untersuchung gegen mich geführt, um zu erfahren, was in dem versiegelten Brief gewesen sei. Der derzeitige Bauermeister [29] war Zeuge und verstieg sich zu der Aeußerung:

Jeder Sozialdemokrat müsse eine Zwangsjacke anhaben und dann täglich 30 übergezogen,

dann würde diesen Leuten schon die Politik vergehen.

Bei solchen Erinnerungen kommt einem oft der Gedanke, daß wir im November 1928 gegen diese Sorte von Menschen zu viel Rücksicht haben walten lassen. Hat man den ersten Reichspräsidenten Fritz Ebert doch auch in den Tod gehetzt. Seit 45 Jahren gehöre ich der Partei an [30] und 38 Jahre bin ich eingeschriebenes Mitglied beim Wahlverein [31]. In diesen langen Jahren habe ich auch nicht eine Woche, von der die Beitragsmarke fehlt. Seit 1891 wohne ich in Weende und habe mit unserm alten Genossen H. Lange [32] Schulter an Schulter für unsere Ideen gekämpft. Wenn wir auch oft verschiedene Ansicht über Erreichung unserer Ziele waren, so waren wir uns stets bewußt, daß jeder das Beste wollte, und wenn wir in diesem Sinne weiter arbeiten, so werden wir noch manches Gute schaffen.

Möchte es mir vergönnt sein, daß ich es noch erlebe, daß sich das arbeitende Volk wieder zusammenfindet.

Denn das wird zur Erreichung unseres gemeinsamen Zieles von unbedingter Notwendigkeit sein; nur als Ganzes bilden wir die Macht, die wir haben müssen, um unsere Ziele zu verwirklichen. Ich stimme darin mit den Ausführungen des Genossen Carl Severing auf dem Osteroder Parteifest überein, daß alles was Menschenantlitz trägt, auch ein menschenwürdiges Dasein führen soll. [33] Das ist es, was wir Sozialdemokraten wollen. Wir sollen es den Arbeitern durch die viele Vereinsmeierei nicht allzu schwer machen, den Weg zur gewerkschaftlichen und politischen Kampforganisation zu finden. Denn nur hier sind die sauer verdienten Groschen in der Familie am besten angebracht. Man sollte denken, jeder vernünftig denkende Arbeiter wüßte von selbst, daß er in den Reihen der Arbeiter stehen müsse. Da es leider nicht so (ist), müssen wir immer wieder für unsere Ideen unter den Arbeitern werben. Dazu gehört vor allem auch die Werbearbeit für unsere Presse. Wenn man ft sieht, in welchen Arbeiterfamilien das ‚Göttinger Tageblatt‘ noch gelesen wird, dann begreift man den politischen Stumpfsinn vieler Arbeiter. 90 Prozent dieser sehen sich nur die Inseratenseiten an. Würden sie den anderen Inhalt lesen, dann sollte man doch meinen, sie müßten einmal schlau werden. Da sitzt der Unverstand der Massen, ihm gilt unser Kampf, ob wir alt der jung sind. [34]

In diesem Sinne will ich bis zum Ende meines Lebens in der Partei mitarbeiten, denn immer noch gilt die Wahrheit unseres alten Kampfliedes:

Wer schafft das Gold zu Tage

Wer hämmert Erz und Stein

Wer webet Tuch und Seide

Wer bauet Korn und Wein

Wer schafft den Reichen all das Brot

Und lebt dabei in bittrer Not

Da sind die Arbeitsmänner, das Proletariat.“

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Übertragen und kommentiert von Günter Blümel, Historische Kommission des Stadtverbands Göttingen, Oktober 2015.


[1] Zigarrenfabrik Löwenthal, die von 1873 bis 1927 in Bovenden bestand.

[2] Sog. „Sozialistengesetz“

[3] Fechten, d.h. vor den Türen betteln, Handwerksburschen hatten sich bei dieser Gelegenheit zum Fechtunterricht angeboten. Betteln war verboten.

[4] Schreibweise insgesamt beibehalten

[5] An der Tür eines Meisters oder Betriebes meist erfolglos nach Arbeit fragen

[6] Richtig Lothe, Landkreis Lippe, Nordrhein-Westfalen

[7] 1882, Die Stiftungsfahne ist im Plessearchiv, Bovenden, erhalten. Mitteilung von Julian Bartels, Bovenden.

[8] Metze, ein Getreidemaß

[9] Tuberkulose

[10] Die ‚Arbeiterchronik‘ aus Nürnberg erschien von April 1888 bis September 1893

[11] Erschien seit 1893 als ‚Norddeutsches Volksblatt‘. Als Kopfblatt wurde von 1888 (?) bis 1902 das Wochenblatt ‚Die Nord-Wacht‘ herausgegeben. Ab Juli 1902 erschien dieses dreimal wöchentlich, stellte 1904/1904 sein Erscheinen ein.

[12] 1883/1884

[13] So wurden Streiks genannt

[14] Kinderarbeit wurde in Preußen ab 1853 erst ab 12 Jahren mi Einschränkungen in Fabriken erlaubt, 1904 ganz untersagt. Ausnahmen waren auch danach möglich

[15] Gustav Radbruch (1878–1949), Jurist und Hochschullehrer, SPD-Mitglied ab 1918, Reichstagsmitglied 1920, 1921 bis 1923 Justizminister,

[16] Die Tellersammlung wurde zur Finanzierung der Kosten von Veranstaltungen noch lange in der SPD durchgeführt. Der Genosse August Brey aus Hannover (1864–1937, er kandidierte im 12. Hannoverschen Wahlkreis und redete sehr oft in Südniedersachsen.

[17] Der 12. hannoversche Wahlkreis umfasste weitgehend das Gebiet des neuen Unterbezirks Göttingen und Osterode.

[18] Wilhelm Pfannkuch (1841 – 1923) aus Kassel war Reichstagswahlkandidat im 12. Hannoverschen Wahlkreis bei der Nachwahl 1884, er kandidierte bis 1893 ohne die erforderlichen Stimmen zu holen.

[19] August Heise, Gendarmerie-Wachtmeister

[20] Sh. zum angesprochenen Vorgang: Uta Schäfer-Richter: Eine Arbeitervorstadt entsteht. Wendes Weg in das Industriezeitalter 1830 bis 1918. Göttingen 1998, Seite 150 f.

[21] Die Versammlungen mussten bei der Vereins-Polizei angemeldet und genehmigt werden.

[22] Richtig: Seidltz

[23] Heute Mensa am Wilhelmplatz, später war dort das Parteibüro, bzw. das Büro des Gewerkschaftskartells bis zur Errichtung des Gewerkschaftshauses am Macshmühlenweg.

[24] Vermutlich gefälschte Flublätter

[25] 1890, in Vorbereitung auf die Reichstagswahlen konnten Genossen in Bovenden lt. Polizeibericht 280 Personen, einige aus Göttingen, mobilisieren. Lechte war Vorsitzender und Leiter der Zahlstelle des Unterstützungsvereins deutscher Tabakarbeiter (Adelheid von Saldern: Vom Einwohner zum Bürger. Berlin 1973, Seite 99). Lechte meint her wohl seine Bovender Genossen, wenn er von einer kleinen Zahl spricht.

[26] Der letzte Parteitag fand in der Schweiz, St. Gallen 1887 statt. In Halle im Oktober 1890, auf dem ein neues Organisationsstatut beschlossen wurde.

[27] Dr. G. Eckels, Theaterstraße 14

[28][28] „Stimmzettel“ , hier sind Flugblätter gemeint. Sh. zur Wahl 1887 und 1890 Thorsten Wehber: Zwischen Hannover und Preußen. Politische Parteien in Göttingen 1866 – 1890. Göttingen 1995, Seite 254f.

[29] Ein örtlicher Begriff für Bürgermeister

[30] 1883

[31] 1890

[32] Heinrich Lange (1866–1936), Schuhmachermeister, ab 1890 Vorsitzender der SPD Weende, 1905 Revisor im Ortsverein Göttingen, 1906 zweiter Vorsitzender im Ortsverein Göttingen, 1910 Mitglied des Gemeinderats, 1911 Gründung des Ortsvereins Weende und Mitglied des Gemeindeausschusses und Bürgermeister. Sh. auch Karl Drewes, Gerhard Ströhlein: „Arbeiterkultur und Sozialdemokratie in Weende 1884–2003“, in: Klaus Wettig (Hg.): 130 Jahre Sozialdemokratie in Göttingen 1873–2003. Göttingen 2003, Seite 109.

[33] Der Staatsminister a.D. Carl Severing (1875–1952) sprach am 4. März 1928 aus Anlass des 60jährigen Bestehens des SPD-Ortsvereins Osterode (sh. Volksblatt 4. Und 6. März 1928), Lechte war anwesend, denn in dem Artikel ist von „Flugsand“ keine Rede.

[34] Der letzte Absatz, der für den Bezug des sozialdemokratischen Volksblatts eintritt, ist wohl in der Redaktion ergänzt worden. In Wortwahl und Stil passt es nicht zu den authentischen Teilen Lechtes.


„Vom Werden und Wachsen der Sozialdemokratie …“ (Volksblatt vom 1. Mai 1926) -

Zur Geschichte der Sozialdemokratie in Bovenden anlässlich der Feier zu „125 Jahre SPD Bovenden“ am 30. Oktober 2015

von Günter Blümel

Der Anfang.

Der Gedanke der Arbeiterverbrüderung, dass die Arbeiter ihre Sache selbst in die Hand nehmen, wurde von außen nach Südniedersachsen getragen. Der Bremer Schuhmachergeselle Ernst Strecker kommt 1873 nach Göttingen und gründet nach dem Vorbild des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (Ferdinand Lassalle) einen Arbeiterverein in Göttingen. 50 Handwerker vor allem und Lohnarbeiter machen mit. Die Polizei überwacht diesen Verein und verbietet ihn wegen Verstößen gegen das Versammlungsecht schon ein Jahr später. Man kann nach Lage der Dokumente davon ausgehen, dass der Arbeiterbildungsverein in Weende und die Ortsgruppe in Bovenden auch von Göttingen aus gegründet worden sind. 1878 wird die Sozialdemokratie als staatsfeindlich verboten (Sozialistengesetz), das Wahlrecht blieb jedoch bestehen, so dass nach dem Zusammenschluss der Lassalleschen Arbeitervereine mit der Eisenacher Sozialdemokratischen Deutschen Arbeiterpartei August Bebels und Karl Liebknechts in Gotha 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands – 1890 nennt sich diese Partei Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – auch in Bovenden, Weende, Göttingen u.a. konnten die Wahlvereine weiter ihre politische Arbeit betreiben. Das „Sozialistengesetz“ zwang die Partei zu anderen Formen der politischen Arbeit, sie gründete Arbeiterbildungsvereine, Gesangvereine, Turnerschaften, Volksbühnen, Sportvereine aller Sparten, um den Zusammenhalt der Genossen zu sichern und die Agitationsarbeit im Verborgenen fortzuführen. Aber vor allem, um der üblen polizeilichen Verfolgung, Gefängnis, Ausweisung und Elend zu entgehen. So wurde auch in Bovenden schon 4 Jahre nach dem Parteiverbot der Arbeiter-Gesangverein „Troubadour“ 1882 in Leben gerufen. Die mistend er zeitweise 80 Mitglieder waren Sozialdemokraten. Seit 1846 gab es bereits einen bürgerlichen Männergesangverein.

Die Quellenlage ist sehr lückenhaft. Ich beziehe mich hier im Wesentlichen auf die in Südniedersachsen, damals „Südhannover“ gelesenen sozialdemokratischen Zeitungen „Volkswille“ und ab 1919 „Volksblatt“, ergänzend Göttinger Zeitung, Göttinger Tageblatt und die Fachliteratur.

Die ersten Wahlen

In den folgenden Wahlen nehmen die Stimmanteile der Sozialdemokratie ständig zu, der Wahlkreis war nach dem ungerechten preußischen Dreiklassenwahlrecht auf Landes- und Gemeindeebene bis 1918 nie zu gewinnen. Selbst bei der Reichstagswahl 1912 reichten die Stimmen nicht für die Entsendung eines sozialdemokratischen Kandidaten. Das gelang erstmals 1924 mit dem Göttinger Zeitungsredakteur Richard Schiller.

Versammlungen. Vom Wahlverein zum Ortsverein.

In der Presse, der in unserem Bereich von Arbeitern gelesenen sozialdemokratischen Zeitung „Volkswillen“ aus Hannover wird der Wahlverein Bovenden erstmals am 15. Januar 1914 mit der Ankündigung eines Vortrags zum Thema „Moses oder Darwin“ erwähnt.

Im Juli 1914 spricht das Göttinger Vorstandsmitglied Kahn in einer Mitgliederversammlung in Bovenden und wirbt für die Schaffung einer eigenen regionalen Zeitung. Er begründet das auch damit, dass Frauen mehr Unterhaltung und weniger Theorie lesen wollten. Für Arbeiter sei der Inhalt des Hannoverschen Blattes „zu hoch“, außerdem klappe die Zustellung nicht. Man vermisst wenige Wochen vor Ausbruch des mörderischen Krieges eine Stellungnahme zu der in der Bevölkerung diskutierten Kriegsgefahr. In Göttingen finden die ersten sozialdemokratischen Veranstaltungen gegen die Kriegshetzer und den Krieg statt.

Der Erste Weltkrieg

Man kann davon ausgehen, dass der Kriegsbeginn in Bovenden und den weiteren Ortschaften Eddigehausen, Emmenhausen, Harste, Lenglern, Oberbillingshausen, Unterbillingshausen, Reyershausen und Spanbeck nicht mit der in den Ortschroniken der Lehrer immer wieder aufgeschriebenen und abgeschriebenen Begeisterung aufgenommen worden ist, von der auch in den Geschichtsbüchern immer gerne berichtet wird. Die Sorgen haben überwogen, viele konnten sich noch an Tote, Verletzte und Verstümmelte aus dem Krieg 1870/71 auch in ihren Familien erinnern. Die Partei forderte nun die Frauen auf, die Organisation zusammenzuhalten, die meisten Männer waren im Krieg. Ein Ausflug nach Weendespring mit den Genossinnen und wenigen Genossen aus Weende und Göttingen am Himmelfahrtstag 1915 zeugte davon. Die SPD stand nun mehrheitlich hinter der kaiserlichen Kriegspolitik

Sicher gab es in Bovenden, Reyershausen und anderen Orten bei Kriegsende 1918 auch einen Arbeiter- und Soldatenrat, den der rechtsnationale Landrat trickreich versuchte, durch einen von ihm ausgesuchten „Bauernrat“ zu schwächen. Nachrichten dazu gibt es leider kaum, da sich alles auf die Städte konzentrierte. Die SPD dominierte anfangs diese Räte, wendete sich jedoch bald gegen sie. Sie wollte Arbeitsplätze und Ordnung im Staat wiederherstellen, während die Räte begannen mit der erfolgreichen russischen Revolution zu liebäugeln. Vor allem aber kritisierten sie, dass die SPD weder die versprochene Sozialisierung der Wirtschaft noch die Entmachtung der Armee ernsthaft betrieben hatte. Die bereits 1917 entstandene Abspaltung aus der SPD, die Unabhängige SPD, hatte in den Ortschaften Bovendens ebenso wie die KPD keinen Erfolg bei Wahlen.

Die SPD zwang gemeinsam mit Kreisen der Armee den Kaiser zur Abdankung im November 1918 und arbeitete in den Übergangsregierungen mit. In Bovenden sprach das Parteivorstandsmitglied Kurt Mey am 15. Dezember 1918 zur politischen Lage. Es traten viele neue Mitglieder dem SPD-Wahlverein bei, vermeldet stolz der „Volkswille“. Die erfolgreiche Politik zeigte sich in dem guten Wahlergebnis zur Nationalversammlung 1919. Die SPD holte 544 Stimmen, die bürgerlichen Parteien zusammen nur 313. Bis auf Emmenhausen sind die Verhältnisse in den anderen Ortschaften ähnlich. „Glänzender Sieg der Sozialdemokratie“ in der Provinz Hannover meldet der „Volkswille“.

Die Partei nimmt Einfluss und wählt eine Frau in den Vorstand

1920 las man erstmals die Namen von drei sozialdemokratischen Akteuren der Weimarer Republik in dem Flecken: der Bovender Tabakarbeiter und spätere Zigarrenfabrikant Georg Raabe und Lampe Oberbillingshausen, den Bergmann Hermann Kühnel aus Eddigehausen.

Im Dezember 1920 wurde eher als in den meisten Orten des Landkreises in Bovenden eine Ortsgruppe der Arbeiter-Jugend, ein Vorläufer der Jungsozialisten, gegründet.

Wichtig waren für die Partei auch die Versammlungsorte, so in Bovenden die Gastwirtschaft Adolf Müller mit einem großen Saal. 1923 fand mit der Genossin Rosa Helfers aus Hameln dort eine große öffentliche Versammlung statt. Genosse Georg Raabe, der Vorsitzende, eröffnete die Sitzung mit dem Ruf „Nie wieder Krieg!“ Helfers referierte zu sozialpolitischen Themen, Hunger- und Krankheitsbekämpfung. Themen, die den Alltag der Menschen in Bovenden begleiteten. Es sei nur daran erinnert, dass erst 1927 beschlossen wurde, eine Wasserleitung gebaut wurde. Am Schluss wurde für die Armen im besetzten Ruhrgebiet gespendet.

In Eddigehausen wurde in einer „schlecht besuchten“ Wahlversammlung der Vorsitzende August Rink, ein Bergmann, gewählt. Aber neben allen Männern im Vorstand zum ersten Mal eine Frau, die Genossin Mönkeberg als Revisorin. Ein Amt, das damals bei der Barkassierung der Mitgliedsbeiträge eine wichtige Kontrollausgabe hatte. Bis 1927 ist in allen Wahlvereinen oder Ortsvereinen des Flecken Bovenden keine Frau mehr in einem Vorstandsamt.

Eine Wahlversammlung mit dem Göttinger Redner Richard Schiller sorgte 1924 für Furore, da die bürgerliche Presse behauptete, er sei mit einer großen Schutzgarde angereist. Die Wahrheit ist, dass die Deutschvölkischen, also die Nazis, die Veranstaltung erfolglos störten und dann diesen Unsinn behaupteten. Der Volksblatt-Redakteur reiste „mutterseelenallein“ in einem Zug zu dem Plesseort. Der Duck der Nazis mit Lügen wird auch in Bovenden spürbar. So behaupten diese, die SPD-Gemeinderäte hätten 1920 die Lehrergehälter gegen die Vorschriften aus der Gemeindekasse angehoben. Eine Sorte rechter Wahllüge, die sich noch bis heute gehalten hat: Sozialdemokraten könnten nicht mit Geld umgehen.

Ortsgruppe des Reichsbanners

Im August 1924 wurde auch in Bovenden eine Ortsgruppe des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold gegründet, eine Schutztruppe, die die Republik und die SPD-Veranstaltungen gegen Angriffe von rechten paramilitärischen Organisationen, wie SA und Stahlhelm schützen sollte. Die Ortsgruppe war sehr aktiv und bei vielen Veranstaltungen und Ausmärschen, Stiftungsfesten und großen Parteiveranstaltungen bis 1933 dabei. Von hier aus werden Ortsgruppen in Reyershausen, Harste, Spanbeck und Oberbillingshausen gegründet. Der Bovender Leiter ist der Genosse Albert Margraf.

Vereine, Vereine, …

Die Kulturvereine der SPD, die Freie Turnerschaften „Frisch auf“ und „Vorwärts“, der Bühnenverein, die Gesangvereine gestalteten mit ihren „Wintervergnügen“, Weihnachtsfeiern, Wanderungen und Beteiligungen an der Kirmes, die 1927 in Oberbillingshausen erstmalig wieder nach dem Krieg stattfinden konnte, das kulturelle Leben. Es werden nicht nur Gesangsvorträge, sondern auch Theaterstücke und Sportvorführungen veranstaltet. Im Mai 1927 wird auch in Spanbeck ein Arbeiter-Gesangverein gegründet. An der 1. Deutschen Arbeiterolympiade in Frankfurt am Main nimmt der Spanbecker Genosse H. Klapproth 1925 teil.

Wahlen

Bei den Provinzialwahlen kann die SPD sich besonders gegen die rechte Sammelliste „Vereinigte hannoversche Provinzialliste“ noch beachtlich behaupten. In Bovenden, Oberbillingshausen, Spanbeck, Reyershausen, Emmenhausen gewinnt sie die Wahl, in Harste und Lenglern gewinnen jedoch die Rechten. Die meist knappen Ergebnisse künden von den zunehmenden Verlusten der späteren Wahlen. Dass Frauen wahlentscheidend sind, hat die SPD in ihrer Geschichte nur mühsam verstanden. Zu einer Wahlversammlung 1926 werden die Genossen „gebeten, ihre Frauen teilnehmen zu lassen, da der Vortrag (des Redners) viel Aufklärung bringen wird“, war in der Einladung zu lesen.

Eddigehausen ist gefährlich

Besonders unangenehm verlief 60jährige Stiftungsfest des Männergesangvereins 1926 in Eddigehausen. Der Boden war so nass und glitschig, so dass „öfters den weißgekleideten Dorfschönen die Füße unter dem Körper weg (gingen), wodurch der Humor ebenfalls zu seinem Recht kam.“ Im Tanzsaal mit seinem Lehmboden kamen die Paare nicht von der Stelle, aber im Großen und Ganzen, so der amüsierte Berichterstatter des „Volksblatts“, verlief das Fest in „bester Harmonie“. Dem Schreiber hatte es zumindest gefallen.

Der älteste Arbeiterverein

Beim 45jährigen Stiftungsfest des Arbeiter-Gesang-Vereins „Troubadour“ 1927 in Bovenden konnte der Vorsitzende noch Gründer des Gesangvereins begrüßen: Wilhelm Freiberg, Christian Sievers, Fritz Ahlbrecht und Karl Schlemm.

Keine goldenen 20iger Jahre

In den Berichten ist häufig von Arbeitslosigkeit, insbesondere unter den Bergbauarbeitern und Tabakarbeitern die Rede, die die Familien in große Not und Armut stürzte. In einer Zeitungsmeldung wird auch mitgeteilt, dass „die Wohnungsnot nirgendwo krasser zum Vorschein (komme), als in Grone, Weende und Bovenden.“ Mit großen Anstrengungen und Widerständen der rechten Kreise werden in Oberbillingshausen und in Bovenden ein Schwimmbad und ein Sport- und Spielplatz 1927 gebaut.

Die Nazis gewinnen nicht nur die Wahlen

Der letzte Bericht einer “Generalversammlung“ (Jahreshauptversammlung) der SPD gibt das Wahlergebnis vom 4. Februar 1933 im Ortsvereinsvorstand wieder: 1. Vorsitzender ist jetzt Albert Margraf, 2. Vorsitzender Rudolf Sauermann, Kassierer Wilhelm Fraeter, Schriftführer Fritz Lotz, Revisoren sind Adolf Rappe und Ludwig Quentin. Es gehörte in dieser Zeit schon viel Mut dazu, in einer Partei aktiv zu sein, die sich offen gegen Faschismus und Nazis stellte. Von einer am 14. Februar 1933 angekündigten Versammlung der SPD-Ortsvereins Bovenden, die am 16. Februar stattfinden soll, gibt es schon keinen Bericht mehr. Wenige Tage später wurde das sozialdemokratische Volksblatt verboten. In der Göttinger Zeitung muss man weiter nach Spuren der SPD suchen.

Die Kreistags- und Gemeindewahlen im März 1933 geben in fast allen Ortschaften des Fleckens den Nazis die Mehrheit. Nur die Ergebnisse in Bovenden waren etwas anständiger für die SPD: Sie holte 434 Stimmen, während die Nazis 470 für sich verbuchten. Nur in Oberbillingshausen gibt es ein vergleichbares Ergebnis: SPD 116 Stimmen, die NSDAP gewinnt mit 141. In dem Bergarbeiterort Reyershausen kommen die Nazis auf 163, die Sozialdemokraten nur noch auf 91 Stimmen, die Kommunisten erhalten 34.

Bei der Wahl zum Gemeindeausschuss gewannen die Nazis 5 Sitze, die Sozialdemokraten ebenfalls 5, die rechte sogenannte „Unpolitische Liste“ holte einen Sitz und wählte mit den Nazis den Ortsvorsteher. „Die Sozialdemokratie ist vertreten durch Zigarrenarbeiter Margraf, Zigarrenfabrikant G(eorg). Raabe, Portier H. Römer, Postschaffner a.D. Fr. Güllenbeck und Mechaniker W(ilhelm). Gloth. Die beiden letzteren treten an die Stelle von zwei zurückgetretenen Kandidaten“. Schreibt die Göttinger Zeitung. Im Juni werden die Gemeindevertretungen, wenn sie nicht ohnehin, wie in Göttingen an ihrer Tätigkeit gehindert werden, aufgelöst und im Bovender Gemeindeausschuss, wie in den anderen Ortschaften des Fleckens sitzen nur noch Nazis bis 1945 und manche darüber hinaus.

(Stand: 13. Oktober 2015)